«Schüler wollen wissen, was sie im Lehrbetrieb erwartet»

«Schüler wollen wissen, was sie im Lehrbetrieb erwartet»

6. Februar 2015 agvs-upsa.ch - Im Wettbewerb um geeigneten Nachwuchs steht das Garagengewerbe in einem zunehmend härteren Wettbewerb mit anderen Branchen. Gut geplante und durchgeführte Schnupperlehren können ein wichtiges Instrument sein, um Jugendliche für einen Beruf zu gewinnen, sagt Bildungsexperte Dr. Christof Nägele von der Fachhochschule Nordwestschweiz.



Eine soeben in Deutschland veröffentlichte Studie bei Jugendlichen vor der Berufswahl hat ergeben, dass 70% der Schülerinnen und Schüler entweder eine vage oder gar keine Ahnung haben, was sie für einen Beruf wählen sollen. Warum tun sich Jugendliche mit der Berufswahl so schwer?
Christof Nägele: In dieser Studie wurden Jugendliche bis zu drei Jahre vor dem Eintritt in eine Berufsausbildung befragt. Da darf es nicht verwundern, wenn viele von ihnen erst eine vage oder gar keine Ahnung haben. Wir sehen bei uns, dass sich die Mehrheit der Jugendlichen am Ende des 9. Schuljahrs für eine weitere Ausbildung entschieden und einen Ausbildungsplatz gefunden hat. Gemäss Zahlen des Bundesamtes für Statistik beginnen 72 Prozent aller Schülerinnen und Schüler nach dem 9. Schuljahr direkt mit einer Berufslehre oder einer schulischen Ausbildung. Diese Jugendlichen scheinen also eine klare Ahnung zu haben, welchen Weg sie einschlagen werden. Die meisten Jugendlichen sind mit ihrer Entscheidung zufrieden und sind sich auch sicher, die richtige Wahl getroffen zu haben. Dies konnten wir in aktuellen Studien am Zentrum für Lernen und Sozialisation (ZLS) zeigen.

Ganz so einfach scheint der Prozess aber trotzdem nicht…
Nein, dies heisst nicht, dass der Berufswahlprozess und der Berufswahlentscheid einfach sind. Im Berufswahlprozess müssen eigene Erwartungen und Wünsche mit den sich bietenden Optionen in Einklang gebracht werden. So wird ein Mädchen mit Migrationshintergrund, das einen technischen Beruf ergreifen möchte, wahrscheinlich erfahren müssen, dass dieser Wunsch eher schwierig zu realisieren ist. Denn es zählen nicht nur die eigenen Interessen und Fähigkeiten. Implizite und explizite Regeln, Werte, Normen und Erwartungen von Eltern, Lehrpersonen oder Berufsbildenden sind zu beachten, da diese die Berufswahl steuern. Die individuellen Auswahlmöglichkeit für Jugendliche sind so oft sehr stark einschränkt. Dieser Umstand macht den Berufswahlentscheid für einen Teil der Jugendlichen schwierig.

Die von Ihnen erwähnte Studie zeigt vor allem, dass die Berufswahl ein intensiver und langwieriger Prozess ist und die Jugendlichen sich bewusst sind, dass dies keine einfache Entscheidung ist. Die meisten Jugendlichen können aber auf viele Ressourcen zurückgreifen und nutzen diese auch aktiv.

Sind Schüler von der Berufswahl grundsätzlich überfordert?
Nein, es deutet wenig darauf hin, dass die Jugendlichen grundsätzlich überfordert sind. Es gibt aber Gruppen von Jugendlichen, die systematisch mehr Schwierigkeiten haben, sich für einen Beruf zu entscheiden und eine Lehrestelle zu finden. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der gewünschte Beruf und die verfügbaren Lehrstellen nicht zusammenpassen, wenn Tests und Aufnahmeprüfungen nicht gelingen, oder wenn auf Bewerbungen Absagen oder überhaupt keine Reaktion kommt. Deshalb ist es wichtig, dass die Jugendlichen auf vielfältige Unterstützung zählen können, z.B. von den Eltern, der Schule, den Kolleginnen und Kollegen.

Ich zeichne hier ein positives Bild der Ausbildungs- und Berufswahl und des Übergangs in die Berufslehre, da viele Jugendliche den Übergang auch so erleben. Umso mehr sollten wir aber auf die Jugendlichen acht geben, denen der Übergang nicht so einfach gelingt. Zahlreiche Studien belegen, dass Jugendliche mit Mühen im Übergang und ohne Abschluss einer zertifizierenden Ausbildung auf Sekundarstufe II ein sehr hohes Risiko eines sich verfestigenden, prekären Bildungs- und Erwerbsverlaufs haben.

Welche Rolle können (oder müssen) die Eltern spielen?
Die Eltern haben eine ganz wichtige Rolle in der Ausbildungs- und Berufswahl ihrer Kinder. Sie beeinflussen durch ihre Erwartungen und Hoffnungen die Ausbildungs- und Berufswahl ihrer Kinder stark. Sie sind auch Bezugspersonen und Vorbilder. Die Erwartungen der Eltern beziehen sich zum Beispiel auf den höchsten Bildungsabschluss, den ihr Kind erreichen soll, oder auf das Berufsfeld.  

Sind Eltern im Grunde nicht auch überfordert, angesichts der vielen Möglichkeiten der weiteren Ausbildung nach der Schule?
Ja, es ist in der Tat nicht einfach, den Überblick über alle Möglichkeiten zu behalten, welche das Schweizer Bildungssystem eröffnet. Einige Kantone haben deshalb begonnen, die Eltern von Kindern im sechsten Schuljahr über die Ausbildungsmöglichkeiten nach Ende der obligatorischen Schulzeit zu informieren.
 

Für überforderte Eltern in die Lücke springen müssen in diesem Fall Berufsberater. Aber auch die scheinen oftmals überfordert, weil es selbst für sie eine Herausforderung ist, die teilweise rasche Entwicklung in einzelnen Berufen erfassen zu können. Wie kann man Ihrer Ansicht nach dieses Problem lösen?
Die Ausbildungs- und Berufswahl ist ein System, in das viele Akteure involviert sind. Informationen zu Ausbildungen und Berufen erhalten Jugendliche von Lehrerinnen und Lehrern, im Berufswahlunterricht an der Schule, von Eltern, Verwandten, Bekannten und nicht zuletzt von Freunden und Freundinnen. Die Berufsberatung ist ein wichtiges Element in diesem System und setzt dort ein, wo Jugendliche Unterstützung suchen. Die BIZ bieten eine vielfältige Palette von Dienstleistungen an.

Es ist in der Tat so, dass sich einige Berufe rasch verändern und reformiert werden. Da Jugendliche unterschiedliche Informationsquellen nutzen sehe ich hier eine gute Ausgangslage, die es den Jugendlichen erlaubt an aktuelle Informationen zu gelangen. Über die allerneusten Entwicklungen in einem Beruf können aber schlussendlich nur die Ausbildungsbetriebe und Berufsverbände informieren. Dabei muss aber kritisch gefragt werden, welchen Stellenwert die top-aktuellsten Informationen in der Ausbildungs- und Berufswahl überhaupt haben.

Schüler haben oft eine überzogene Erwartung an einen Beruf. Wie kann man hier mit einem „Realitätsmanagement“ lindernd eingreifen?
Diese Aussage möchte ich anhand der mir verfügbaren Daten relativieren. Die Jugendlichen haben sehr oft ein sehr gutes Bild des gewählten Lehrberufs. Was sie aber im Ausbildungsbetrieb erwarten wird, ist ihnen vergleichsweise weniger vertraut. Hier besteht Nachholbedarf. Es ist genauso wichtig, das sie einen passenden Lehrbetrieb gefunden haben. Vor allem zu Beginn der Lehre ist es dann entscheidend, dass der Ausbildungsbetrieb die Lernenden aktiv in den Betrieb integriert und die Jugendlichen sozialen Anschluss finden. So entwickelt sich eine Bindung an den Beruf und an den Lehrbetrieb. Erfolgt dies nicht, steigt das Risiko dass sich die Jugendlichen abwenden, weniger motiviert sind oder auch die Lehre abbrechen.

Erfreulich ist, dass technische Berufe nach wie vor sehr hoch im Kurs sind – leider vor allem aber nach wie vor bei Jungs…
...und aktuelle Studien und Berichte legen nahe, dass die Berufswahl nach wie vor - und eventuell sogar wieder vermehrt - aufgrund des Geschlechts gefällt wird. Auch wenn vielen Berufe nach wie ein Geschlecht haben, gibt es doch zunehmend Berufe, in denen die Mädchen zahlreicher werden. Geschlechtsstereotypen sind hartnäckig, aber nicht unveränderbar.

Wie kann man Mädchen mehr für technische Berufe interessieren?
Viele Mädchen sind durchaus an technischen Fragestellungen interessiert. Es ist hinlänglich bekannt, dass Mädchen in technischen Disziplinen so kompetent sind wie die Jungen – oder die Jungen so gut sind wie die Mädchen. Es ist nicht das Können, das den Unterschied ausmacht, sondern das Sich-Zutrauen und Wollen. Viele Mädchen wollen einfach andere Berufe wählen als Knaben, was auch durch das Alter der Jugendlichen bedingt ist. Die Ausbildungs- und Berufswahl fällt zeitlich mit der Entwicklung der Geschlechtsrolle und des Selbstbildes zusammen. Deshalb sind Initiativen vielversprechend, bei denen Väter ihre Töchter mit an die Arbeit nehmen, wie z.B. am Nationalen Zukunftstag. Es sind Initiativen, bei denen Väter ihren Töchtern die männliche Berufswelt nahebringen und ihnen aufzeigen, dass sie in dieser Welt als Frau willkommen sind. Und es sind Initiativen wichtig, welche die expliziten und impliziten Erwartungen die Arbeitgeber gegenüber jungen  Frauen und Männern haben, thematisieren.

Eine Ihrer Aussagen ist, dass sich das Interesse für bestimmte Berufe positiv entwickelt, wenn man in dieser Tätigkeit positive Erfahrungen machen kann. Ist das ein Plädoyer für mehr Schnupperlehren?
Ja, Schnupperlehren erachte ich als wichtig und vor allem dann sinnvoll, wenn sie als Teil des Berufswahlprozesses in diesen eingebettet sind. In einer guten Schnupperlehre können Jugendliche berufsbezogene Tätigkeiten ausprobieren und Erfahrungen sammeln. Es reicht es nicht, sie einfach zusehen zu lassen. Das ist nach kurzer Zeit langweilig. Wichtig ist auch, dass die Jugendlichen bereits während der Schnupperlehre Rückmeldung zu ihrem Verhalten, Auftreten und ihrem Zugang zu den berufsbezogenen Tätigkeiten erhalten. Dies setzt voraus, dass die Jugendlichen in der Schnupperlehre angeleitet und begleitet werden.
 
Viele Garagenbetriebe haben nicht die Möglichkeit, im Rahmen einer Schnupperlehre ständig jemanden im Betrieb zu haben und Fragen zu beantworten. Trotzdem wäre das für den Nachwuchs der Branche sehr wichtig. Wie könnte man dieses Dilemma auflösen?
Gute Schnupperlehren anzubieten ist mit einem Aufwand verbunden. Es braucht ein gutes Konzept, ein Programm und Personen, welche die Schnupperlehrlinge betreuen. Wie gesagt, nützt es den Jugendlichen wenig, wenn sie nur zusehen können, wie andere arbeiten. Dieser Aufwand, eine gute Schnupperlehre anzubieten, dürfte sich aber lohnen. Für die Jugendliche wie auch für Betriebe.  Schliesslich stützen sich die meisten Lehrbetriebe auf die Erfahrungen während der Schnupperlehre, wenn sich einen Lehrling auswählen.

Dr. Christof Nägele referierte am vergangenen «Tag der Schweizer Garagisten» vom 20. Januar im Stade de Suisse in Bern zu diesem Thema. Sein Referat können Sie hier herunterladen.
Die Übersicht über die Tagung vom 20. Januar mit einer Zusammenfassung der Referate, Stimmen von Gästen und einer ausführlichen Bildergalerie finden Sie hier.

nach oben

Feld für switchen des Galerietyps
Bildergalerie